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Polonezköy – Polen in der Türkei

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Als Polen nur noch am Bosporus existierte

Unweit von Istanbul befindet sich ein aussergewöhnliches Dorf, das ausser Einheimischen kaum jemand kennt. In Polonezköy, einer von Wald umgebenen polnischen Enklave, haben sich vor 175 Jahren Polen niedergelassen, als ihr Staat aufgeteilt wurde.

Marian Brehmer / ISTANBUL www.sacredjournalismorg

So grün kann Istanbul sein? Ungläubig beobachtet der Besucher aus dem Autofenster die allmähliche Metamorphose der Landschaft. Der allgegenwärtige Betondschungel der 16-Millionen-Metropole ist einer dichten Waldlandschaft aus saftig grünen Bäumen gewichen. Die Strasse führt zu einer eigentümlichen Ortschaft. Polonezköy – türkisch für «polnisches Dorf» – liegt 15 Kilometer östlich des Bosporus inmitten eines der letzten Waldgebiete in der Provinz Istanbul. Die Gegend ist seit 1994 eine Naturschutzzone.

Halb verdeckt von Brombeerbüschen, grüsst ein gelbes Ortseingangsschild auf drei Sprachen: Polnisch, Türkisch und Englisch. Polonezköy wurde vor 175 Jahren von polnischen Flüchtlingen auf Einladung der Osmanen gegründet. Heute kommen vor allem türkische Tagestouristen aus Istanbul. Ausländische Besucher verschlägt es seltener hierher.

«Schlaf gut, mein Bruder, in deinem dunklen Grab – möge Polen immer in deinen Träumen sein», lautet eine Grabinschrift.

Gleich zu Beginn fällt auf, dass an dem Dorf etwas anders ist: Ein quietschendes Eisentor öffnet sich zu einem katholischen Hügelfriedhof. Im Schatten von hochgewachsenen Fichten stehen hier Reihen von weissen Marmorkreuzen. Die meisten der Grabsteine tragen Namen auf Polnisch, manche auch auf Türkisch. «Schlaf gut, mein Bruder, in deinem dunklen Grab – möge Polen immer in deinen Träumen sein», lautet eine Grabinschrift, verziert von Plastikblumen, die längst verblichen sind.

Noch heute, nach mehr als fünf Generationen, konversiert ein guter Teil der Einwohner von Polonezköy auf Polnisch. «Nun ja, eine Art von Polnisch, um genau zu sein», meint Aleksandra Tarnowska, eine blondhaarige Geschichtsstudentin aus Warschau, die für Feldforschung nach Polonezköy gereist ist. Tarnowska schreibt ihre Diplomarbeit zu den polnischen Dialekten der Dorfdiaspora von Polonezköy. «Obwohl viele Kinder hier polnische Namen tragen, wachsen sie meist mit wenig Sprachpraxis auf. Ich werde öfters gefragt, ob ich nicht Polnischunterricht geben könnte», erzählt die Studentin.

Seit kurzem führt sie Besucher durch das «Erinnerungshaus», ein Drei-Zimmer-Museum an der einzigen Hauptstrasse von Polonezköy. Untergebracht ist das Museum im hölzernen Domizil von Tante Zofia. Tante Zofia ist seit einigen Jahrzehnten tot. Doch von der älteren Generation im Dorf kann sich noch jeder an die alte Dame erinnern. Tante Zofias Wunsch war, dass die Geschichte von Polonezköy in ihrem Haus weiterleben sollte.

Auch Flaubert und Liszt kamen vorbei

Das Museum ist an diesem Tag ohne Besucher. Zwischen alten Möbeln hängen die Schwarz-Weiss-Bilder der ersten Siedler. Fernab vom mondänen Istanbul errichteten diese einst ihre spartanischen Holzhütten. Die Aufnahmen haben einen Hauch vom Mythos der Pioniere im amerikanischen Wilden Westen. Einst, so steht es im «Erinnerungshaus», soll auch der französische Schriftsteller Gustave Flaubert mit einem Rucksack auf Wanderung Polonezköy einen Besuch abgestattet haben. Auch Franz Liszt liess sich im Jahr 1847 mit einer Reisegruppe blicken.

Die Gründung von Polonezköy, damals noch Adampol, geht zurück auf die Aufteilung Polens zwischen den Grossmächten Österreich, Russland und Preussen im 18. Jahrhundert. Das Osmanische Reich, so heisst es in der Dorfgeschichte, jedoch habe die Besetzung Polens nie akzeptiert. Darum gewährte man den polnischen Widerständlern Unterschlupf auf türkischem Boden. Das neu erschaffene Dorf avancierte zum Refugium für polnische Oppositionelle.

Heute jedoch sind die Türken in der Überzahl. Der Tourismus hat übernommen. Ein paar Schritte dorfeinwärts haben türkische Grossmütter ihren eigenen Wochenendbasar errichtet. Bewaffnet mit säuberlich ausgebreiteten Wollsocken, Topflappen, Strickjacken und Kirschmarmelade, warten sie auf Touristen in Kauflaune. Verlockender aber erscheint die Verheissung eines Cafés gleich nebenan, das mit «original polnischem Dessert» wirbt.

Aus der Küche der «Gospoda Pension» dringt eine Unterhaltung auf Polnisch ins Ohr. Zwei Damen sind eifrig dabei, mit Liebe zum Detail einen Kuchen zu garnieren. Aus einem Transistorradio plärrt türkischer Pop. Über einer Rüschengardine hängt ein Erinnerungsfoto von einer Audienz mit dem polnischen Papst Johannes Paul dem Zweiten.

Unter dem weinberankten Dach der Gartenterrasse ihrer Pension tischt Agnes Modlinska seit Jahren selbstgebackenen Kuchen auf. Modlinska plaudert lebendig in fliessendem Türkisch und hat dabei einen leichten Akzent. Die Rezepte, erzählt sie, stammten aus der Familientradition, garantiert biologisch und authentisch polnisch. Heute hat sie «piernik» gebacken, einen Gewürzkuchen, der traditionell in der Weihnachtszeit zubereitet wird. «Wenn ich ‹piernik› backe, dann ist es, als wäre ich wieder bei meiner Grossmutter. Erinnerungen sind bei mir mit Gerüchen verbunden», erklärt Modlinska.

Zum süssen «piernik» gibt es den omnipräsenten einheimischen «çay», dampfend in Tulpengläser eingeschenkt und mit heissem Wasser aus einer stählernen Teekanne verdünnt. Die Gastgeberin lächelt. Der türkische Schwarztee verträgt sich gut mit dem polnischen Traditionskuchen, den sie auf altbacken verzierten Porzellantellern serviert.

Zwischen zwei Kulturen

«Wir haben ein grosses Glück, dass wir zwischen zwei Kulturen aufgewachsen sind», sagt Modlinska, die sich gerne mit ihren Gästen unterhält. Es sei ihr ein Herzensanliegen, den polnischen Charakter von Polonezköy am Leben zu erhalten. «Hier bei uns wachsen selbst die Apfelbäume zu Chopins Klängen», lacht sie. «Wenn ich Chopins Musik höre, fühle ich mich in eine andere Welt versetzt.»

Dann führt sie über den wohlgepflegten Rasen in ein Wohnzimmer, das schon bessere Zeiten gesehen haben muss. An der Wand hängt ein Hirschgeweih. Neben dem rostigen Ofen steht ein ramponiertes Piano. Modlinska setzt sich auf den Klavierhocker und spielt die ersten Töne einer Chopinschen Sonate.

«Hier bei uns wachsen selbst die Apfelbäume zu Chopins Klängen», lacht Agnes Modlinska. «Wenn ich Chopins Musik höre, fühle ich mich in eine andere Welt versetzt.»

Dann unterbricht sie ihr holpriges Spiel: «Manchmal fühle ich mich wie zwischen zwei Stühlen.» Ausflügler aus Istanbul fragten sie zuallererst, ob sie Polin sei. Wenn hingegen Polen vorbeikämen, sei die erste Frage, ob es sich denn in der Türkei überhaupt in Sicherheit leben lasse. Modlinskas Tochter jedenfalls hat ihre Wahl getroffen: Sie studiert nun klassische Musik am Konservatorium in Warschau.

Die Gastgeberin zuckt mit den Schultern. «Manches verlieren wir, ohne dass es je zurückkommt. Das Einzige, was sich nicht verändert, ist die Veränderung an sich.» Und vielleicht die polnischen Kuchenrezepte ihrer Familie. Da kommt auch schon der zweite Kuchenteller. Es ist schwierig, zu widerstehen. Zumindest auf der Gartenterrasse von Agnes Modlinska wird in Istanbul der Geschmack Polens weiterleben.

Polonezköy ist von Istanbul aus am besten mit dem Taxi zu erreichen. Eine Taxifahrt vom Stadtzentrum kostet um die xx türkische Lira (16 Franken) und dauert rund 45 Minuten.

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